Zeit verschenken

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„Vielen Dank, dass Du mir so viel von Deiner Zeit geschenkt hast. Es war so schön, dass du da warst.“

Es war ein Besuch zum 89. Geburtstag. Die Blumen, die ich im Namen der Gemeinde vorbei gebracht hatte, waren nicht so wichtig. Wichtig war, dass ich Zeit mitgebracht hatte.  Denn die wird in unserer Gesellschaft ja immer mehr zur Mangelware. Wie oft höre ich den Satz: Ich habe leider keine Zeit!

Statt Zeit haben wir immer mehr Aufgaben und Herausforderungen und Stress. Gerade die älteren Menschen leiden sehr darunter. Sie sitzen zuhause und der Tag vergeht nur langsam. Und selbst die Mitarbeiter des Pflegedienstes, die ein- oder mehrmals pro Tag kommen, müssen ständig auf die Uhr schauen. Ihre Arbeit ist streng durchgetaktet. Und wenn ein alter Mensch sich nicht mehr selbst waschen kann oder eben so langsam geworden ist, dass die Mitarbeiter warten müssten, wird nicht geholfen, sondern gewaschen. Nur dabei sein und assistieren dauert zu lange. Zeit ist Mangelware.

 

Und trotzdem – nein, gerade deshalb verschenke ich meine Zeit ab und an. Es ist wie ein Luxus, den ich mir immer wieder gönne. Denn auch für mich war diese verschenkte Zeit wertvoll. Ich habe es mir gegönnt zuzuhören. Da hat mir Gisela Geschichten aus einer Zeit erzählt, die ich nicht selbst erlebt habe. Ich durfte das Leuchten in ihrem Gesicht sehen, wenn sie von früher gesprochen hat, als ihr Mann noch lebte und sie zusammen im Urlaub waren. Als junges Ehepaar haben sie ein Kind aufgenommen und groß gezogen. Und sie strahlte: „Unsere Tochter holt mich heute ab und wir trinken zusammen Kaffee!“ – Noch jemand, der Zeit verschenkt! Zum Abschluss des Besuchs durfte ich für Gisela beten, Gott für ein langes Leben danken und ihn bitten, sie in ihrem Alltag zu begleiten und zu segnen.

 

Giselas Freude zu erleben war für mich ein großes Glück. Mir ist wieder einmal klar geworden, dass verschenkte Zeit keine verlorene und schon gar keine vergeudete Zeit ist. Im Gegenteil: Es ist erfüllte Zeit. Sie macht mein Leben reicher. Für mich ist sie ein Segen Gottes.

 

Joachim Hipfel